Ein Stück weitergekommen - Anthroposophische Meditationskurse

Artikel von Edith Willer-Kurtz in "Das Goetheanum" Nr. 4 / Januar 2006

Seit über einem Jahr bieten Agnes Hardorp und Thomas Mayer anthroposophische Meditationskurse in vielen Orten Deutschlands an. Hardorp, ausgebildet in Gesang, Eurythmie und Alexandertechnik, widmet sich intensiv der Grundlagenvermittlung der Meditationspraxis. Seit seiner Jugend sucht und ringt Thomas Mayer um geistiges Erleben und macht entsprechende Studien und meditative Übungen. Edith Willer-Kurtz besuchte einen siebentägigen Kurs und berichtet über ihre Erfahrungen.

Von den Erdenwesen bis zu den hohen Hierarchien - das ist eine große Spanne. Dies konnten wir im siebentägigen Meditationskurs mit Agnes Hardorp und Thomas Mayer erleben. Diesmal treffen sich 14 Teilnehmer von Jung bis Alt. Fast jeder gibt als Grund für die Teilnahme an, alleine nicht zur Zufriedenheit meditieren zu können. Der Kurs findet im "Studienhaus Rüspe" im Sauerland statt. Die unberührte Natur mit Wäldern, Weiden, Wiesen, Forellenteichen und Tieren ist für das Naturbetrachten mit seelischen Wahrnehmungsübungen sowie für die Meditationsübungen geradezu einladend.

Meditation ist das Herzstück der Anthroposophie. In der Meditation findet man einen Ort innerer Ruhe, erklärt Mayer in seiner Einleitung, die geistigen Sinne können sich schulend entwickeln. Bei Rudolf Steiner finden wir die Erklärung: "Wenn der Mensch einmal beginnt, Meditation zu machen, so vollzieht er damit die einzige wirklich völlig freie Handlung in diesem menschlichen Leben. (...) Wir sind darin vollständig frei. Es ist dieses Meditieren eine urfreie Handlung." (1)

Konzentrationsübung als Voraussetzung für die freie Meditation

Nach Auffassung von Mayer und Hardorp wird die Meditationspraxis durch gegenseitigen Austausch und Anleitung in der Gemeinschaft wesentlich erleichtert. Dies stellen auch die Teilnehmer fest. "Hier ist es leichter. Die Konzentration in der Gemeinschaft potenziert sich", sagt eine Teilnehmerin. Die aufeinander aufbauenden Übungen helfen Wahrnehmungen zu entwickeln, so daß Zuversicht und die nötige Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis in der Praxis wachsen. Der Erfahrungsaustausch fördert das Kennenlernen der Grundlagen, wie Steiner sie nennt: "Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann." (2)

Bei den im Kreis auf dem Meditationskissen Sitzenden, einige wenige auf Stühlen, mit aufrechten Rücken, Nacken und Kopf, stellen sich Stille und Beschaulichkeit ein: Geduld üben und sich den Wesenheiten widmen, die da sind und sonst meist keine Beachtung erfahren.

Die sogenannte "Stein-Übung", eine von Steiner empfohlene Konzentrationsübung, scheint zunächst eine unbedeutende Tätigkeit zu sein; durch sie gelangt man jedoch zu einer entsprechenden inneren Haltung als Voraussetzung für die freie Meditation. Wir lassen uns auf einen Stein ein, halten den Stein auf der Handfläche vor uns in angemessenem Abstand, so daß er gut im Zentrum der Aufmerksamkeit ist. Zuerst im "aktiven Schauen": Ich imaginiere aktive Strahlen, die von meinen Augen zu dem Stein hingehen, die ihn hervorbringen, ihn plastizieren, ihm von außen Gestalt geben. Dann schließe ich die Augen und stelle mir den Stein vor, genau, wie ich ihn gesehen habe. Ich konzentriere mich dabei auf den Stein sowie auf den Raum zwischen den Augen und dem Stein, indem ich voller Aktivität formend tätig bin, möglichst den Stein in der Gesamtschau abbildend.

Beim anschließenden "passiven Schauen", wieder minutenlang, dreht sich die Sache um: jetzt schaut der Stein mich an. Man denkt sich den Stein aktiv, der von sich aus Strahlen zu uns schickt. Unser Blick ist jetzt nur aufmerksam, passiv, kontemplativ. Dann schließen wir die Augen und bilden den Stein innerlich ab: Wahrnehmend, ob es schwerer oder leichter fällt als das aktive Schauen, gewahrwerdend, in welchen Körperteil der Stein am unmittelbarsten strahlt, ob in den Kopf, in die Augen, ins Herz oder ins Sonnengeflecht, und auf welcher Ebene der Stein zu uns spricht. 

Der "gemischte Blick" ist eine weitere Übung, bei der mit dem aktiven und passiven Blick im optimalen Mischungsverhältnis der beste Austausch mit dem Stein ermöglicht wird. Möglich wird hier, in einen Seinszustand mit dem Stein zu kommen, indem der Stein in mir verweilt, ich sozusagen Stein werde. Dabei kommt man leichter zur Wahrnehmung eines Seinszustandes mit dem Stein, bei dem er in mir verweilt und ich sozusagen "Stein" werde. In dieser Konzentration ist der Meditierende stärker vorbereitet für das, was da an geistigen Erkenntnissen kommen kann.

Auf diese Übung aufbauend, lernen wir in den folgenden Tagen weitere Meditationsformen kennen, unter anderem auch Übungen mit geometrischen Zeichen wie Punkt, Kreis, Kurve und Spirale oder Sä¤tzen. Wir spüren, wie sich das innere Leben entwickeln kann und zur Kraftquelle wird.

Wahrnehmen und Erleben von Erkenntnissen

Die Schulungsübungen nachmittags finden draußen statt. Sie stellen uns Kursteilnehmer ganz neu in die Natur, somit auch in die Welt und in das eigene Leben. Zum Verständnis des meditativen Erlebens der Natur muß man sich klarmachen, daß die sinnlich-sichtbare Natur nur eine Wahrnehmungsebene ist. Gleichzeitig gibt es die vielfältigen Kraftströme der Ätherwelt, die Elementarwesen, Engel, das Totenreich und die für alles den Rahmen schaffende Christuskraft, wie Mayer in einem Vortrag ausführt und damit die Aufmerksamkeit zu einer vertieften Art des Naturerlebens lenkt.

Abends kommen die Teilnehmer zum Gespräch zusammen. Es wird die Form der "Intensivrunde", die Horst Altfeld aus Dornach als ein Instrument des Austausches mit Hilfe von Vereinbarungen entwickelt hatte, praktiziert. Jeder ist bereit, sich zu einer Frage zu äußern, entscheidet selbst, wann und wie lange er spricht, spricht jedoch nur einmal. Spricht einer, hören alle intensiv zu, enthalten sich jeder Stellungnahme und stellen keine Fragen. Wenn jeder gesprochen hat, ist die Runde beendet. Durch diese Vereinbarungen entstehen eine besondere Konzentration und Authentizität in den Aussagen. Dazu kommt, daß man sich mehr einfühlen kann in den anderen und durch den anderen lernen kann, sich zu öffnen und gegenseitig zu bereichern.

Von Erdenwesen bis zu den höheren Hierarchien: Jeder ist ein Stück weitergekommen in der Wahrnehmung und im Erleben von Erkenntnissen, je nachdem wie weit er schon auf dem spirituellen Weg ist. Am Ende der Woche weiß jeder, daß er eine Woche lang in der geistigen Entwicklung gelebt hat, die in der Zukunft Wirkung hat - im Denken und Handeln für sich selbst, für die soziale Umwelt, in der Begegnung mit geistigen Wesenheiten, auf dem Weg zum Licht. 

Anmerkungen:

(1) Rudolf Steiner: Das Geheimnis der Trinität (GA 214), Vortrag vom 20. August 1922

(2) Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (GA 10), Kap. Bedingungen.

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