Finde oder verliere ich mein Ich durch Meditieren in der Gruppe?

Erfahrungswerte für die Netzwerktagung "Goetheanum Meditation Weltweit" im Juli 2013 von Agnes Hardorp

Ich biete zusammen mit Thomas Mayer Kurse in anthroposophischer Meditation an seit 10 Jahren. Wir sind jedes Wochenende woanders, machen an verschiedenen Orten 2 jährige Schulungen, für die sich die Menschen verbindlich anmelden und es alle 4 Monate ein Treffen gibt. Bis dato haben wir ca. 2500 Menschen in unseren Kursen gehabt. Viele Menschen sind dadurch in eine regelmäßige Meditationspraxis gekommen und es haben sich nachhaltige regionale Meditationskreise gebildet.

Gerne möchte ich Ihnen von unseren Erfahrungen in unseren Kursen erzählen. Wir meditieren dort viel und sprechen anschliessend über unsere Erfahrungen. Wie sind wir zu dieser Vorgehensweise gekommen? Ich wurde ursprünglich von Georg Kühlewind dazu angeregt. Er hielt Vorträge und baute immer kurze Meditationseinheiten ein. Es fiel sofort eine Ruhe über den Raum und es war immer so etwas wie Blut lecken für mich - wow! - das geht ja! Man ist hellwach dabei, alle konzentrieren sich - man tut etwas und muss nicht einem Vortragenden passiv zuhören. Jeder kommt in seine Kraft, man regeneriert sich auch dabei, während man mit höchstem Ansporn probiert, den Satz zu durchsinnen und zu halten oder den Stein aktiv oder empfangend anzuschauen. Man steigert sich gleichsam in den eigenen Fähigkeiten, weil einem hier plötzlich ein Rahmen dazu geboten wird. Ich habe es immer wie einen Klimmzug nach oben erlebt. Wie Münchhausen konnte ich durch Ichkraft mich am eigenen Schopfe ergreifen und hochziehen, in eine gesteigerte Konzentration, an einen Ort wo das Wort wie eine Schale wird, in das sich neue unerahnte Inhalte, Bedeutungen, Beziehungen hinein senken können. Wo ich mich als tätigen Denker erlebe und der Meditationsgegenstand sich jeweils neu offenbaren kann, eine kreative Quelle, ein Jungbrunnen. Danach forderte Kühlewind immer einzelne heraus, über ihre Erfahrungen zu erzählen und das war die zweite Offenbarung: die eigenen Erlebnisse wurden klarer, griffiger im Abgleichen mit den anderen. Unter aller Vielfalt merkte ich, "ich bin nicht allein", nicht im Wolkenkuckucksheim mit meinem Erleben, sondern auf einer guten, sicheren und gesunden Fährte. Kühlewind schaffte es dann immer, durch Ergänzungen, durch eigene Zielgerichtetheit und manchmal durch ruppiges einfach jemanden Abschneiden, der zu lange redete oder gar faselte, den Inhalt des eben Meditierten noch zu vertiefen. Sätze aus dem Johannesevangelium oder Ähnliches wurden plötzlich sonnenklar in ihrer Tragweite und Bedeutung. Man erkannte größere Zusammenhänge und es war so stark, weil wir alle aktiv daran beteiligt waren. Auch die tollsten Gedankengänge und Einsichten, wenn ich sie im Vortrag vorgetragen höre, schwächen mich kurz über lang. Es ist der Unterschied zwischen Symphonien auf der Stereoanlage hören und selber Klavier üben. Letzeres ist sicher stümperhafter, aber stärkt mich und meine Umgebung mehr.

Bezüglich der anthroposophischen Meditation in unseren anthroposophischen Gesellschafts-Kreisen, wo immer noch ein großes Misstrauen vor "Gruppenmeditation" herrscht, gebe ich oft folgenden Vergleich: Es ist, als wolltest du Klavier spielen lernen und jemand gäbe dir ein Zimmer mit einem Flügel und ein Buch von Franz Liszt und einige Noten und würde dir sagen, "Fang an zu üben, üb' 10, 20, 30 Jahre. Du darfst nie ein Konzert hören, du bekommst keinen lebenden Lehrer, du darfst mit niemandem über deine musikalischen Erfahrungen sprechen". Wer würde unter diesen Umständen Klavier lernen? In dieser Position befinden wir uns, wenn wir propagieren, jeder muss den Schulungsweg allein im stillen Kämmerlein gehen. Und die Ergebnisse sind in unseren Kreisen entsprechend.

Es gibt viele Meditationswege, wo der Fokus nur auf Stille, Ruhe oder nur den Atem gelenkt wird. Auch das kann etwas bringen, denn den Körper still zu halten ist schon die halbe Miete beim Meditieren, und es eine zeitlang zu üben, wie beim Zen, schadet gar nicht. Aber das Geniale an der anthroposophischen Meditation ist ja gerade, dass es jeweils einen Bewußtseinsgegenstand gibt - etwas, welches meiner Konzentration Form geben kann, etwas, was ich innerlich anpacken kann mit der Summe meiner mentalen Kräfte. Nur so kann ich hoffen von der Verstandes- zur Bewußtseinsseele zu kommen - in dem ich der Verstandesseele erstmal tüchtig Stoff gebe. Die Phase des "Durchsinnens" ist der Beginn jeder vernünftigen Meditation, so beschreibt es Kühlewind auch, für uns westliche Zeitgenossen. Irgendwann kann ich dann den Inhalt versinken lassen und nur in der Wirksamkeit der Formkraft verweilen. Ich gebe manchmal hierfür das banale Beispiel der Badewanne. Ich ziehe den Stöpsel, lasse den Inhalt abfließen, aber die Badewanne, meine Konzentrationskraft, bleibt bestehen während ich jetzt neues Wasser einlaufen lasse. Das Bewußtsein leert sich, die Formkraft bleibt bestehen und da hinein können sich neue Inhalte oder gar Geisteswesen aussprechen. Dies kann auch ein reines Gefühlsgeschehen sein. Wenn es von einer tiefen Ruhe durchtränkt ist, hat es auch eine Aussage, ich sage gerne "Gefühlsnachklang" dazu. Hier "fühlt sich die Welt durch mich durch", es sind welt-bezogene, nicht Ich-bezogene Gefühle. Normale Gefühle binden mich, diese Gefühle befreien mich von mir selbst. Die zwei Arten des Fühlens unterscheiden zu können ist wesentlich, auch für das Wahrnehmen von Elementarwesen.

Die anthroposophische Meditation, weil sie so die Formkraft des eigenen Denkens mit einbezieht und uns westliche Menschen dort abholt, wo wir stehen mit unserem logischen, rationalen Verstand und nicht die Denkebene als "Illusion" bezeichnet und alle Aufmerksamkeit von ihr ablenken will, wie es bei einigen östlichen Meditationsrichtungen erwünscht ist, ist sich selbst Schutz. Die Konzentration wird gesteigert, man ist hellwach dabei. Die Gefahr, ins Träumen ab zu driften ist viel geringer als im Alltagsbewußtsein. Als Menschen durchdringen wir uns ständig aurisch sowieso, nur sind wir uns oft dessen nicht bewußt. Fast alles, was man unternimmt - shoppen gehen, Fernsehen schauen, Zeitung lesen, ist gefährlicher als gemeinsam Meditieren. Von überall her durchdringen uns ungeläuterte Wesen, beim gemeinsamen Meditieren, wo jeder sich um Gedankenkontrolle und Konzentrationssteigerung bemüht - ist die Gefahr am geringsten.

Natürlich hilft es der eigenen Konzentration, in einem Raum voller konzentrierter Menschen zu sein. Es ist eine Stütze und kann einem einen Weg aufzeigen, wo es hingehen kann. Später, wenn man die Verbindung zu den Elementarwesen, den Engeln oder Verstorbenen stärker erlebt, merkt man, man ist sowieso nie allein beim Meditieren. Ein meditierender Mensch wird geradezu ein Magnet für die geistige Welt. Man wird durch Meditieren zum ersten Mal dort oben "gesehen", vorher tritt man gar nicht auf, man gehört zur allgemeinen Weltzerstreuung. Jetzt, plötzlich, "wow, jemand, der sein Bewußtsein zusammenhält!", da gibt es Applaus von dort oben. Und gleichzeitig wird man auch Magnet für die Doppelgängerwesen, die eigenen und die kollektiven, die angezogen werden, weil sie nach Erlösung schreien.

Als ich mich für diese Tagung angemeldet habe, spürte ich plötzlich einen Mühlstein ums Herz. Ich wachte jede Nacht mit klopfendem Herzen auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ein riesen Stress-Elemental dockte an. Ich hatte plötzlich etwas mit dem kollektiven Doppelgänger der anthroposophischen Bewegung zu tun, der Angst hat vor Meditation in der Gruppe und vor Erfahrungsaustausch des meditativ Erlebten. Ein riesiges Angstelemental, wie ein Felsblock, nahm einfach in meinem Körper Platz. Welch Frechheit, wieso hat es hier eine Resonanzfläche? - Im Durcharbeiten dieser heftigen Blockade, die ich in dieser Beziehung nicht zum ersten Mal erlebe, stelle ich immer wieder fest: wenn ich es schaffe, durch zu kommen, sie auf zu weichen, habe ich immer eine Kraft gewonnen. Ein hartnäckiger Widerstand, den es lohnt zu konfrontieren und nicht weg zu laufen. Deshalb bin ich heute hier und rede vor Ihnen. Der leichtere Weg wäre gewesen, einfach zu einer Malertagung nach Ungarn zu fahren, wo man im eigenen Tun ist und dabei Brüderlichkeit erlebt. Stattdessen rede ich hier über etwas, wovon ich überzeugt bin, dass sich die Widerstände erst in dem Moment legen, wo man es selber erfährt. Viele Menschen haben uns schon die Rückmeldung gegeben: sie hatten Vorbehalte gegen Meditieren in einer Gruppe - wer weiß, was da alles für Energien fließen, usw., die spätestens nach dem ersten Abend des gemeinsamen Tuns aufgelöst waren. Das Erleben ist fast immer, dass man gestützt wird, aber trotzdem noch die selbe Arbeit leisten muss, höchstens jetzt mehr Ansporn dazu hat. Und die mentalen Muskeln trainieren ist anstrengend, wie Bergsteigen, es ist kein Zucker schlecken. Die Aussicht auf der Höhe und die tiefe Entspannung, die folgen kann, kommt erst danach.

Steiner sagt in "Wie erlangt man?", dass man nicht frühzeitig intime Meditationserfahrungen aussprechen soll, weil man sich dadurch den Weg verbauen könne. In unseren Kursen ist komplett freigestellt, was man mitteilen möchte, niemand muss etwas zu Intimes aussprechen.

Steiner hat die Latte ziemlich hoch gesetzt für den Meditationsweg. Wir müssen die Baby-, die ersten Schritte ergänzen, die er übersprungen oder vorausgesetzt hat. Ich erlebe sein Vermächtnis wie Partituren, die wir zur Aufführung bringen müssen. Jeder muss jahrelang zuhause alleine Geige üben, aber wozu das Ganze, wenn man nie im Orchester spielen darf? Was ich unterrichte ist eigentlich Aufführungspraxis - aus den chemischen Formeln heraus in die Alchemie. Allein schon, dass man die Meditation hörend aufnehmen kann und sie nicht ablesen oder sich selber vorsprechen muss, ist schon ein Labsal. Wir bekommen jedes Wochenende Rückmeldungen, wie viel das Leben der Menschen, die an unserer zweijährigen Schulung teilnehmen, sich verändert hat durch die Meditation - bis in alle Aspekte hinein.

Gemeinsame Meditation ist die soziale Plastik, Beuys' Wärmeplastik der Zukunft. Erstaunlich ist auch, wie nahe sich die Menschen in kurzer Zeit kommen in unseren Kursen. Die Verstrickungen, die Ellbogen, die auf der diskursiven Ebene immer im Zwischenmenschlichen bestehen bleiben - fallen wie weg. Die gemeinsame Bemühung um Bewußtseinserhöhung Richtung "oben" zahlt sich unmittelbar aus, es ist in unserer heutigen unsicheren Zeit die einzig gute Kapitalanlage. Laßt uns ernst machen mit dem Geistesgut Rudolf Steiners und nicht in einer Vortrags- und Diskussionsgruppenkultur versanden, wo es immer noch mehr interessante Inhalte gibt, man es aber nicht schafft, diese Inhalte für sich umzusetzen, sie in Willens- und Tatkräfte umzusetzen.

Ziel ist, dass jeder meditiert, nicht nur Hochschulmitglieder, dass es überall Meditationsräume gibt, auch hier am Goetheanum, dass man sich abends zum Meditieren trifft, nicht nur zum "labern". Nur dadurch werden wir den Krisen, die es schon gibt und die noch kommen werden, Stand halten.

Zum Schluss ein Zitat von Rudolf Steiner:

"Dadurch, dass die Menschen freiwillig ihre Gefühle zusammenstrahlen lassen, wird wiederum etwas über den bloß emanzipierten Menschen hinaus gebildet. Der emanzipierte Mensch hat seine individuelle Seele; die geht niemals verloren, wenn sie einmal errungen ist. Aber dadurch, dass die Menschen sich in freiwilligen Zusammenhängen zusammenfinden, gruppieren sie sich um Mittelpunkte herum. Die Gefühle, die so zu einem Mittelpunkt zusammenströmen, geben nun wiederum Wesenheiten Veranlassung, wie eine Art Gruppenseele zu wirken, aber in einem ganz anderen Sinne als die alten Gruppenseelen. Alle früheren Gruppenseelen waren Wesenheiten, die den Menschen unfrei machten. Diese neuen Wesenheiten aber sind vereinbar mit der völligen Freiheit und Aufrechterhaltung der Individualität der Menschen. Ja, wir dürfen sagen, sie fristen in einer gewissen Beziehung ihr Dasein von der menschlichen Einigkeit; und es wird in den Seelen der Menschen selbst liegen, ob sie möglichst vielen solchen höheren Seelen Gelegenheit geben, herunter zusteigen zu den Menschen, oder ob sie es nicht tun. Je mehr sich die Menschen zersplittern werden, desto weniger erhabene Seelen werden heruntersteigen in das Gebiet des Menschen. Je mehr Zusammenhänge gebildet werden, und je mehr da Gemeinschaftsgefühle bei völliger Freiheit ausgebildet werden, desto mehr erhabene Wesenheiten werden zu den Menschen heruntersteigen und desto schneller wird der Erdenplanet vergeistigt werden." (Rudolf Steiner, GA 102, 12. Vortrag)

In diesem Sinne, möchte ich Sie alle herzlich einladen, einmal einen unserer Kurse zu besuchen, auch wenn Ihr Anliegen nur ist, Angst vor Meditieren in der Gruppe abzubauen.

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