Was ist das Spezielle der Anthroposophie zum Thema übersinnliche Wahrnehmung und Meditation?

Artikel von Thomas Mayer in "Anthroposophie weltweit - Mitteilungen Deutschland, Oktober 2013"

Unseren ersten Meditationskurs boten Agnes Hardorp und ich auf der Hibernia-Sommertagung 2004 an. Die Resonanz war sehr gut. Wir erlebten, dass es ein großes Bedürfnis in der anthroposophischen Szene gibt, praktische Erfahrungen mit Meditieren zu machen, viele fühlen sich hier allein gelassen. Seit 2005 leiten wir jedes Jahr über 35 Meditations-Wochenenden an. Dabei geht es immer um Praxis und Erfahrungsaustausch, insgesamt waren etwa 2300 Menschen in unseren Kursen. Im folgenden einige grundsätzliche Überlegungen zur Meditation.

Es wird immer schwieriger, ohne Mediationspraxis zu überleben, denn die hektische Welt zieht einen ständig von sich weg.

Meditation ist hilfreich für die seelische Ausgeglichenheit, körperliche Gesundheit, spirituelle Entwicklung und für die Pädagogik, Gemeinschaftsbildung, Unternehmensführung, Forschung, Heilung und alle weiteren Lebensgebiete.

Im 20. Jahrhundert überschritt die Menschheit als Ganzes die Schwelle zur geistigen Welt, wie es Rudolf Steiner immer wieder beschrieben hat. Das wurde meist nicht bewusst mitvollzogen. Die Wirkungen sind trotzdem vorhanden, zum Beispiel die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, der das alte Karma aufbewahrt. Die unerlösten Schatten, auch Doppelgänger genannt, werden heute im Seelenleben deutlich erlebt, weshalb die Psychotherapie entstand und sich in den letzten Jahrzehnten stark ausbreitete.

Früher fand die esoterische Schulung zum Aufwachen in der geistigen Welt nur in kleinen Menschenkreisen und im Verborgenen statt. Damit das allgemeine Überschreiten der Schwelle verdaut und kultiviert werden kann, veröffentlichten die Meister den Okkultismus und machten ihn allen Menschen zugänglich.

Ab 1900 traten esoterische Meister weltweit in die Öffentlichkeit und öffneten die esoterischen Schulen. Zum Beispiel: Rudolf Steiner (Anthroposophie), Peter Deunov und Mikhael Aivanhov (Weiße Bruderschaft), Hazrat Inayat Khan (Internationaler Sufiorden), Swami Sivananda (Yoga) oder die Meister der verschiedenen buddhistischen Richtungen, die echten Meister aus dem Hinduismus und später Schamanen aller Kontinente.

Diese esoterischen Schulen ergänzen sich und gehören zusammen. Es gibt verschiedene Ausgangspunkte, Herangehensweisen und Aufgaben, aber keine wirklichen Differenzen.

Die Meister sind brüderlich verbunden. Streit entsteht immer nur unter Anhängern, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe Selbstidentität beziehen und dies durch Abgrenzung verstärken wollen.

Es gab in der anthroposophischen Szene eine Tradition der peinlichen Überheblichkeit gegenüber anderen esoterischen Strömungen, gepaart mit Hochmut und der Unfähigkeit zu eigenen übersinnlichen Erlebnissen. Über Jahrzehnte wurde Menschen gemobbt, die übersinnlich wahrnahmen oder eigenständig geistig forschten. Diese Haltung scheint - glücklicherweise - am Auslaufen zu sein.

Die Unterschiede innerhalb der anthroposophischen Bewegung sind genauso groß wie die Unterschiede der weltweiten esoterischen Strömungen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn verschiedene anthroposophische Strömungen sich nicht verstehen.

Seriöse Esoterik sollte unterschieden werden von Fast-Food-Spiritualität. Diese zeichnet sich zum Beispiel aus durch ein minimalistisches Weltbild, Ich-auflösende Praktiken, Erleuchtungs-Versprechen, Hellsichtigkeit an einem Wochenende, Unsinnige oder unlogische Glaubensätze, Pseudogurus, Drogen, Macht-, Geld- oder Sexmißbrauch durch leitende Persönlichkeiten, etc.

Einige Besonderheiten des Stils der anthroposophischen Meditation sind:

  • Es gibt keinen Übungskanon, jeder muss sich seine Praxis selbst zusammenstellen.
  • Es gibt unzählige Meditationsanweisungen und Mantren, es kann aber auch alles andere meditiert werden, was zum Beispiel von anderen esoterischen Strömungen gepflegt wird.
  • Die Meditation ist auf das Ich abgestützt, nicht auf eine Tradition, rituellen Kontext oder Guru.
  • Denken wird in der Meditation genauso ernst genommen, wie Fühlen und Wollen.
  • Der Weg geht immer durch eine Form in die erfüllte Leere.
  • Die Forschungsergebnisse über die geistige Welt geben der Meditation eine Landkarte und ermöglichen Orientierung.
  • Es wird mit der konkreten Kommunikation mit Elementarwesen, Engeln, Toten, Christus, etc. gerechnet.
  • Die Ichkraft wird in alle geistigen Bereiche mitgenommen.
  •  Damit können geistige Erlebnisse in Gedanken gefasst und formuliert werden, was geistige Forschung ermöglicht.

Fortgeschrittenes Ziel des anthroposophischen Schulungsweges ist das bewußte Aufwachen im kosmischen Geistesmenschen. Rudolf Steiner gibt auf die Frage "Wo sind die Wesen der geistigen Welt, z.B. die Hierarchien der Engel?" eine deutliche Antwort: "Sie sind alle im Menschen." Das heißt: Es gibt keine geistige Welt außerhalb des Menschen. Der Mensch ist ein Wesen, das die ganze geistige Welt umfaßt. Nur bemerken wir dies als gegenwärtig inkarnierte Menschen oft nicht, denn unsere kosmische Dimension ist unsere Nachtseite, die wir verschlafen.

Und wie forscht man? Rudolf Steiner sagt, indem "sich der Mensch zur Wahrnehmung des Menschen als rein geistigen Wesens" erhebt. Zur geistigen Forschung ist also der Freiheitsakt des inneren Aufwachens, das leibfreie Sich-selbst-Ergreifen des Bewusstseins in der Meditation nötig. Soweit man dies schafft, wacht man in der eigenen kosmischen Dimension auf und kann Ätherisches, Astrales und Geistiges wahrnehmen. Ohne eine solche Selbsterhebung gibt es keine Geistesforschung.

Damit ist auch möglich, das höhere Devachan zu erleben, dort eine Seele im nachtodlichen Leben zu begleiten oder mit dem eigenen Geistesmenschen zu arbeiten. Das erscheint mir eine Besonderheit des anthroposophischen Schulungsweges zu sein, auf anderen Wegen eröffnet sich oft nur die Äther- und Astralwelt.

Hellwaches übersinnliches Wahrnehmen erfolgt konkret in vier Stufen, die ich kurz charakterisieren möchte:

  • Konzentrationssteigerung, Bewusstseinserhöhung, schrittweise Begegnung mit eigenen ungeläuterten, erdverhafteten Seelenanteilen (Hüter der Schwelle) und in diesem Vor-sich-Bringen und Annehmen des "niederen Ichs" ein Verbinden mit dem höheren Selbst.
  • Imaginative Erkenntnis: Ich produziere von der Sinneswelt unabhängige Bilder, Vorstellungen, Gedanken oder Gesten und achte darauf, ob diese von Kräften oder Wesen erfüllt werden und ein Eigenleben beginnen. Es ist wie ein Von-außen-darauf-Schauen, eine Es-Beziehung.
  • Inspirative Erkenntnis: Ich nehme die produzierten Vorstellungen weg und halte mich nur noch in den inneren Gefühlen, Regungen und Tätigkeiten, die für die Produktion notwendig waren. Durch diesen Ruck nach innen kann ein Gespräch mit den Wesenheiten beginnen, die in der Imagination noch wie von außen sichtbar waren. Es ist ein persönliches Gespräch, eine Du-Beziehung.
  • Intuitive Erkenntnis: Ich nehme auch die innere Tätigkeit weg, halte mich aber wach und mache so einen Ruck nach außen und identifiziere mich mit dem jeweiligen geistigen Wesen, erlebe dessen Leben, Organisation und Zusammenhang mit der Geistwelt. Mich gibt es in diesem Moment nicht mehr, sondern nur das konkaktierte Wesen, das ich bin. Die intuitive Erkenntnis ist immer eine Ich-Beziehung.

In der anthroposophischen Szene war Meditieren in der Gruppe und Erfahrungsaustausch lange verpönt. Das ist ein unfassbarer Managementfehler! Die geistige Forschung ist die Kernkompetenz der Anthroposophie, dazu ist übersinnliches Wahrnehmen und Meditation notwendig. Aber kaum jemand lernt alleine meditieren. Zum Lernen braucht man immer Austausch und einen sozialen Kontext. Doch Meditation wurde über Jahrzehnte mit einem Schweigen belegt, mit Ängsten behaftet und in das "stille Kämmerlein" verbannt. Damit wurde die Anthroposophie von ihrem Lebensquell abgeschnitten. Anstatt die Kernkompetenz der Anthroposophie zu fördern, wurde das von führenden Persönlichkeiten gezielt verweigert und behindert. Heute wandelt sich das, aber die Blockaden der letzten 90 Jahre wirken natürlich nach.

Deshalb steht die Anthroposophische Meditation noch am Anfang. Es gibt in der anthroposophischen Szene keine breite Meditationskultur. Es gibt Lesekreise und viele künstlerische Aktivitäten, Meditationsgruppen sind noch sehr selten. Eine breite Meditationskultur müssen wir erst noch aufbauen. Wir wissen, dass das gelungen ist, wenn in der Öffentlichkeit irgendwann Anthroposophie ganz selbstverständlich mit Meditieren verbunden wird.

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