Westliche Spiritualität und Meditation

Agnes Hardorp und Thomas Mayer, Zeitschrift Visionen, Febr. 2011

Die Anthroposophie ist ein Kulturimpuls, der unser westliches Bewußtsein so verwandelt, daß wir in jedem Lebensgebiet die geistigen Welten ganz praktisch einbeziehen können. Ein geordnetes Aufwachen in der geistigen Welt findet in der Meditation statt, diese ist das Herz der Anthroposophie. Die Autoren leiten Schulungen in anthroposophischer Meditation und beschreiben die Dimension dieser westlichen Spiritualität.

Die Anthroposophie ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen wirksam. Die Demeter-Landwirte waren die ersten Biobauern, in jeder größeren Stadt gibt es Waldorfschulen, die GLS Bank ist die erste sozial-ökologische Universalbank. Es gibt anthroposophisch orientierte Behinderteneinrichtungen, Kulturstätten, Verlage, Krankenhäuser, Ärzte, Therapeuten und Forscher. Unternehmen mit anthroposophisch orientierten Gründern wie Alnatura oder dm-drogerie markt fallen durch eine ethische Ausrichtung auf. Soziale Bewegungen wie für Direkte Demokratie oder das Grundeinkommen haben anthroposophische Impulse im Hintergrund. Eine so lebenspraktische Wirksamkeit ist für eine spirituelle Bewegung auffallend und ist Ausdruck einer westlichen Spiritualität und eines Meditationsstiles, der Erde und Himmel zu verbinden sucht.

Die Anthroposophie strebt die übersinnlichen Welten mit einer Genauigkeit und Offenheit zu erforschen, wie es die Naturwissenschaft mit der physischen Welt macht. Von Rudolf Steiner gibt es 350 Bücher (!!) zu allen Bereichen der geistigen Welt, seien es die übersinnlichen Leiber des Menschen, die Engelshierarchien, das nachtodliche Leben oder die kosmische Weltentwicklung. Diese Schaffenskraft steckte an, anthroposophisch orientierte Autoren produzierten seither Tausende weiterer Schriften und Studien. Steiner machte einen großen Wurf zur Begründung einer Geistesforschung, an deren Anfang wir immer noch stehen.

Dabei drang Steiner oft in weite geistige Bereiche vor, über die sonst keiner spricht. Dieser Tiefgang überrascht uns immer wieder. Dies war ihm möglich, da er in der Meditation die Denkkraft, Wachheit und das Unterscheidungsvermögen in die höchsten Ebenen mitnahm. Es ging ihm nicht um das Ausschalten des Verstandes und des Ichs, um in einer unfassbaren Erlösung zu verweilen, sondern es ging ihm um eine Vertiefung der Denkkräfte und Befreiung des Ichs, so daß er sich in höheren geistigen Ebenen halten konnte. Das ist nicht ein Widerspruch zum modernen westlichen Denken, sondern dessen Spiritualisierung. Steiner schildert, daß er erst wach in die Regionen des höchsten Devachans vordringen konnte, als er die naturwissenschaftlichen Vorstellungen als "innerliche Aktivität benutzte, um über diese Begrenzung hinauszukommen, der die Initiaten in der Zeit unterlagen, als eine neuere naturwissenschaftliche Denkungsart noch nicht vorhanden war." (1) Steiners besondere Fähigkeit war die bewusste Verbindung des Erdenbewusstseins mit der geistigen Welt, die Vermählung der Verstandeskraft und Sinneswachheit mit dem übersinnlichen Wahrnehmen in der Meditation. Unsere Erfahrung aus Hunderten von Meditationskursen ist, daß diese Grundausrichtung der Bewußtseinsverfassung von Menschen, die in der westlichen Zivilisation aufgewachsen sind, sehr entspricht.

Da die anthroposophische Meditation sich auf das Ich abstützt gibt es keinen kollektiven Übungskanon. Es gibt von Steiner Schriften zum Schulungsweg (2), hunderte Meditationsvorschläge und unzählige methodische Hinweise, wie man meditativ zu bestimmten geistigen Wesensbegegnungen kommen kann. Da aber jeder Mensch wo anders steht, muß jeder seine meditative Praxis selbst zusammenfügen. Auch sind die Kurse und Bücher zur anthroposophischen Meditation so unterschiedlich wie die Kursleiter und Autoren. Es gibt keine einheitliche Linie. Wir meinen: zum Glück! Das gehört sowieso zum Grundcharakter der anthroposophischen Bewegung, daß es ein dezentrales Netzwerk mit individuellen Akteuren und Organisationen ist, die manchmal gar nicht zusammenpassen.

Meditation ist das tägliche Brot der Seele und des Geistes

Meditieren kann jede und jeder, für jeden gibt es den richtigen Ansatz. Im Meditieren findet man einen Ort innerer Ruhe, zentriert sich und dieses erquickt. Deshalb hilft regelmäßiges Meditieren, um besser mit den beruflichen und familiären Anforderungen umzugehen. Das ständige, plappernde Zwiegespräch und die sich im Kreise drehenden Sorgen hören auf. Wesentliches rückt in den Mittelpunkt.

Das Wichtigste am Meditieren ist, daß man es tut. Darüber Lesen kann hilfreich sein, ersetzt aber niemals die eigene Erfahrung. Und man sollte sich nicht alleine damit lassen. Wie fast immer im Leben geht es auch hier im Austausch mit anderen viel einfacher. Deshalb können wir nur empfehlen Meditationsgruppen zu besuchen und mit Freunden gelegentlich zusammen zu meditieren und Erfahrungen auszutauschen.

Die meisten Menschen können am Morgen am Besten meditieren, wenn sie noch nicht in den Alltag verstrickt sind. Man sollte sich sein Übungsprogramm zusammen stellen, um eine tragende Struktur zu haben. Man wird das Programm gerne wiederholen, kann es aber auch jederzeit ändern, denn die Meditation lebt aus der freien Geistesgegenwart.

Es geht immer zuerst darum, daß man bei sich verweilt und bemerkt, in welchem energetischen und seelischen Zustand man ist. Dazu kann man zum Beispiel seine Seeleninnenräume (Chakren) durchfühlen. Man wird bemerken, wie wohltuend diese liebevolle Aufmerksamkeit ist. Dann kann man sich einem Meditationsobjekt zuwenden, einem Stein, einer Pflanze, einem Bild, einem Satz, einen Spruch, einem Gefühl, einem Gedanken oder einer komplexeren Übung. Es geht immer darum, an diesem Objekt die Konzentration und Aufmerksamkeit zu steigern, länger dabei zu bleiben als man es normalerweise tun würde und immer genau wahrzunehmen, was geschieht. Es geht um eine Bewußtseinssteigerung. Es geht nicht darum, in einen dämmrigen Zustand mit traumartigen Bilderreisen zu kommen oder Mantren zu wiederholen, die man nicht versteht. In diesem stärkeren Ankommen im eigenen Ich wacht man Schritt für Schritt in seelischen und geistigen Räumen auf, die man bislang gar nicht kannte und von denen man niemals vermutet hätte, daß sie in einem stecken. Unsere Erfahrung ist, daß? solche Entdeckungen heute jede und jeder machen kann.

In der Meditation findet man den Anschluss an die verschiedenen Sphären der geistigen Welt. Wir leben ständig in diesen höheren Sphären, bemerken sie aber in unserem normalen Bewusstsein nicht. Wie mit einem Fahrstuhl, durch die eigene Konzentrationskraft angetrieben, fährt man dann in der Meditation weit oder weniger weit hoch und lebt sich langsam bewusst in diese Gebiete ein. Das Bewusstseinsniveau so zu erhöhen, dass geistige Wesen Zugang dazu haben, dass man überhaupt für sie sichtbar wird in der geistigen Welt - darum geht es. Mit dieser Bewusstseinserhöhung findet gleichzeitig eine Vertiefung des Gefühls statt - man ist mehr bei sich, gefügter, in keiner Weise "abgehoben", im Gegenteil. Sobald es einem einmal gelungen ist, diesen Kontakt zu schaffen, sucht man ihn immer wieder.

Wenn es einem regelmäßig gelingt, schaltet man sich auf einer anderen Ebene in das Weltgeschehen ein, man wird sozusagen höher oben "eingeklinkt". Es können dann ganz andere Dinge ins Schicksal eingelenkt oder auch regelrecht, wie beim Chiropraktiker "eingerenkt" werden, Krankheiten verhindert werden, Menschenbegegnungen herbeigeführt werden, die lebensverändernd sind. Die Engels-Hierarchien haben durch unsere Bemühungen in ihre Richtung überhaupt erst die Möglichkeit, richtig einzuwirken. Wenn wir ihnen nicht im Wachbewusstsein entgegenarbeiten, müssen sie alles über den Schlaf bei uns bewirken. Somit ist die Meditation die Ur-Salutogenese, wodurch unser Ich eine ganz neue Chance bekommt, in unsere Wesensglieder ordnend einzugreifen.

Dadurch, dass der Wille vom tätigen Eingriff in den physischen und Ätherleib abgehalten wird - man sitzt still, bringt alle äußere Bewegung vollkommen zur Ruhe - dadurch kann man zunächst überhaupt klarer wahrnehmen, was sich alles auf der Bewusstseinsebene abspielt. Man lernt diese Ebene in ihrer Reinheit kennen, man lernt im "Bewusstsein pur" zu leben, ohne dauernd durch den Kontakt zur Außenwelt abgelenkt zu werden. Irgendwann schafft man es dann, sich so zu sammeln und die Bewusstseinskräfte so zu steuern, dass alles durch das Nadelöhr des einen Konzentrationspunktes hindurch geht. Bekanntlich können richtig fokussierte Lichtstrahlen durch eine Lupe ein Feuer entzünden. Es gilt nun unser Bewusstsein zu einer solchen Lupe zu machen. Dies geschieht durch ein Hin- und Herpendeln (es kann auch ein blitzschnelles Pendeln sein) zwischen eigenem aktiven Bemühen (das man als Denkwillen bezeichnen kann), und einem passiven Sich-Hingeben an die Wesen der geistigen Welt, die nur darauf warten, helfend und führend einwirken zu dürfen. Diese geistigen Wesen können sich, das kann erlebbar werden, regelrecht in uns hinein versenken, von oben nach unten in den Leib hinein, begleitet von einer unendlich gesteigerten Ruhe, von der man dann weiß: "Das ist nicht meine Ruhe sondern ihre". In dieser Ruhe fühlt man sich zum ersten Mal wirklich bei sich selbst angekommen, man ruht in sich, weiß aber gleichzeitig, dass es ein Fühlen ist dessen, was geistige Wesen durch uns hindurch fühlen. Diese tiefe Ruhe ist im Normalbewusstsein nicht möglich, wohl im Schlaf, aber da geschieht ja unbewusst, was es in der Meditation bewusst zu erreichen gilt.

Wenn man morgens meditiert, geht man anschließend ganz anders durch den Tag. Was immer dann auch schief gehen mag, man hat ja "seinen Tag" schon gehabt. Und man hat erlebt: Ja, es lohnt sich doch alles, alles ist sinnvoll, ich lerne mich richtig platzieren, richtig einzubinden in das Weltgeschehen und dieses atmet auf, denn es hat darauf gewartet, dass ich es tue.

Mit dieser höheren Anbindung kann man auch in jedem Beruf besser arbeiten. Deshalb gab Rudolf Steiner mehreren Berufsgruppen spezielle Meditationen. Er empfahl den Bauern meditierend durch das Feld zu gehen, denn das ist eine geistige Düngung und Nahrung für die Elementarwesen, die am Pflanzenwachstum arbeiten. Lehrer sollen abends immer einige Kinder in die Meditation nehmen. Uns wurde schon oft berichtet, wie stark das wirkt und zu Verhaltensänderungen führt. Und für die Geistesforschung ist die Meditation sowieso das Grundhandwerkszeug. Das Meditieren hat so unendliche Möglichkeiten und Anwendungsfelder und ist die Basis einer spirituellen Kultur der Zukunft!

Zu den Autoren:

Agnes Hardorp und Thomas Mayer bieten Seminare und Schulungen in anthroposophischer Meditation an. Kontakt: www.anthroposophische-meditation.de und www.geistesforschung.org

Bücher von Thomas Mayer:

  • Erlebnis Erdwandlung - Berichte und Texte einer Zeitzeugenschaft
  • Rettet die Elementarwesen
  • Zusammenarbeit mit Elementarwesen - 13 Gespräche mit Praktikern

Anmerkungen:

(1) Rudolf Steiner: Das Initiatenbewusstsein, Gesamtausgabe Nr. 243, S. 184.

(2) Auswahl von Büchern von Rudolf Steiner zum Schulungsweg: Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten, GA 10, Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, GA 16, Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17

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